Sonntag, 13. November 2005

Der Ochs und sein Hirte

Um die Ochsenbilder und die dazu gehörenden Lehrgedichte richtig zu verstehen, müssen wir berücksichtigen, daß der Ochse in der altchinesischen Weisheit das Symbol der Geisteskraft ist. Entkleiden wir also diese altchinesische Geschichte ihres Bildcharakters, so steht vor uns ein Mensch, der seine geistigen Kräfte auf mannigfaltigen Irrwegen verloren hat. Die Gier nach Gewinn und die Furcht vor Verlust beherrschen sein Leben. Sein inneres Licht ist getrübt, so daß er Recht und Unrecht nicht mehr zu unterscheiden vermag. Entschlossen macht er sich auf den Weg, seine zerstreuten Kräfte zurückzuholen. Er liest in den heiligen Büchern, hört die heilige Lehre und beginnt, sich unaufhaltsam in der Zen-Meditation zu üben. So entdeckt er die Spur seines ursprünglichen Wesens. Doch seine Sinne schweifen noch umher, und seine ungeordneten Triebe verlieren sich immer wieder in der Welt früherer Leidenschaften. Durch standhafte Meditationsübungen nähert er sich jedoch mehr und mehr seinem ursprünglichen Wesen. Seine schweifenden Sinne beruhigen sich; die Begierden fallen von ihm ab; die früheren Gegensätze heben sich auf. Sein Geist läutert sich und erhebt sich zum Schauen der Wahrheit. Eine innere Einheit durchwaltet sein Tun und Lassen. In der vollkommenen Selbstvergessenheit wird sein Herz klar und durchsichtig, sein Wesen offen und weit. Alles, wovon er sich zuvor frei machen mußte, kehrt verklärt zu ihm zurück. Jetzt schaut er mit anderen Augen in die Welt. Er kehrt in sie zurück, um seine Kraft in den Dienst der Menschen zu stellen und ihnen zur wahren Freiheit und Erleuchtung zu verhelfen.


1. Die Suche nach dem Ochsen

Der Ochse ist in Wirklichkeit nie verloren gegangen; warum also ihn suchen? Da der Mensch sich aber von seinem wahren Wesen abgewandt hat, ist der Ochse ihm fremd geworden; er hat ihn im Staub aus den Augen verloren. Weit ist der Mensch von seiner Heimat abgeirrt und sieht sich nun einem Wirrsal von Wegen gegenüber. Gier nach Gewinn und Furcht vor Verlust schießen wie sengende Flammen empor; Vorstellungen von Recht und Unrecht stehen gleich Dornen auf.



Verlassen in endloser Wildnis
schreitet der Hirte dahin
durch wucherndes Gras
und sucht seinen Ochsen.
Weit fließt der Fluß,
fern ragen die Gebirge,
und immer tiefer ins Verwachsene
läuft der Pfad.
Der Leib zu Tode erschöpft
und verzweifelt das Herz.
Doch findet der suchende Hirt
keine geleitende Richtung.
Im Dämmer des Abends
hört er nur Zikaden
auf dem Ahorn singen.


II. Das Finden der Ochsenspur

Durch Sutras und Lehren findet er die Spur des Ochsen. Er hat genau verstanden, daß verschieden geformte (goldene) Gefäße doch alle vom gleichen Gold sind und daß gleichermaßen alles und jedes eine Offenbarung des Selbst ist. Doch kann er noch nicht Gut und Böse unterscheiden, nicht Wahrheit von Trug. Noch ist er nicht wirklich durch das Tor eingetreten. Deshalb nennt man dieses Stadium 'Erblicken der Spuren'.



Unter den Bäumen am Wassergestade
sind hier und dort die Spuren des Ochsen
dicht hinterlassen.
Hat der Hirte den Weg gefunden
inmitten des dicht wuchernden,
duftenden Grases?
Wie weit auch der Ochse laufen mag
bis in den hintersten Ort
des tiefen Gebirges:
Reicht doch seine Nase
in den weiten Himmel,
daß er sich nicht verbergen kann.


III. Das Finden des Ochsen

Wenn er nur gespannt auf die alltäglichen Laute horcht, wird er zur Erkenntnis gelangen und in eben diesem Augenblick den wahren Ursprung erblicken. Die sechs Sinne unterscheiden sich nicht von diesem wahren Ursprung. In jedem Wirken ist der Ursprung unverhüllt gegenwärtig. Er entspricht dem Salz im Wasser, dem Leim in der Farbe des Malers. Wenn der Hirte die Augen weit aufschlägt, wird er inne, daß das Gesehene vom Ursprung nicht verschieden ist.



Auf einmal erklingt
des Buschsängers helle Stimme
oben im Wipfel.
Die Sonne strahlt warm,
mild weht der Wind,
am Ufer grünen die Weiden.
Es ist kein Ort mehr,
dahin der Ochse sich
entziehen könnte.
So schön das herrliche Haupt
mit den ragenden Hörnern,
daß es kein Maler erreichte.


IV.

Heute hat er den Ochsen getroffen, der lange in der Wildnis umhergestreift war. Doch der Ochse schwelgte so lange in dieser Wildnis, daß es nicht leicht ist, ihn von seinen alten Gewohnheiten loszureißen. Er sehnt sich nach dem süß duftendem Gras, noch ist er eigensinnig und wild. Will der Hirte ihn zähmen, so muß er zur Peitsche greifen.



hat der Hirte den Ochsen gefangen.
Zu heftig noch dessen Sinn,
die Kraft noch zu wütend,
um leicht seine Wildheit zu bannen.
Bald zieht der Ochse dahin,
steigt fern auf die hohen Ebenen.
Bald läuft er weit in tiefe Stätten
der Nebel und Wolken
und will sich verbergen.


V. Das Fangen des Ochsen

Erhebt sich ein Gedanke, so folgen weitere und weitere. Gedanken werden durch Erleuchtung wirklich; infolge der Verblendung werden sie unwirklich. Die Dinge erhalten ihr Dasein nicht durch die Umwelt, sondern sie erheben sich einzig im eigenen Geiste. Fest muß der Ochsenhirt das Leitseil packen und darf keinen Zweifel eindringen lassen.



Nach höchsten Mühen
Von Peitsche und Zügel
darf der Hirte seine Hand
keinen Augenblick lassen.
Sonst stieße der Ochse
mit rasenden Schritten
vor in den Staub.
Ist aber der Ochse geduldig gezähmt
und zur Sanftmut gebracht,
folgt er von selbst
ohne Fessel und Kette
dem Hirten.


VI. Die Heimkehr auf dem Rücken des Ochsen

Der Kampf ist vorüber: 'Gewinn' und 'Verlust' haben sich in Leere aufgelöst. Der Hirte singt die ländliche Weise der Holzfäller und spielt auf der Flöte die einfachen Lieder der Dorfkinder. Er sitzt bequem auf dem Rücken des Ochsen und blickt heiter zu den Wolken droben auf. Ruft man ihn an, so sieht er sich nicht um; will man ihn festhalten, so bleibt er doch nicht hier.



Der Hirte kehrt heim
auf dem Rücken des Ochsen,
gelassen und müßig.
In den fernhinziehenden Abendnebel
klingt weit der Gesang seiner Flöte.
Takt auf Takt
und Vers auf Vers
tönt die grenzenlose Stimmung
des Hirten.
Hört einer auf den Gesang,
braucht er nicht noch zu sagen,
wie es dem Hirten zumute.


VII. Der Ochs ist vergessen, der Hirte bleibt

Im Dharma gibt es keine Zweiheit. Der Ochse ist unser urinnerstes Wesen - das hat er nun erkannt. Eine Falle ist nicht mehr erforderlich, wenn der Hase gefangen ist, ein Netz nicht mehr vonnöten, wenn der Fisch geködert wurde. Es ist, als wäre Gold von der Schlacke befreit worden; als wäre der Mond zwischen den Wolken zum Vorschein gekommen. Ein Strahl von klarstem Glanz scheint immerdar vom Urbeginn an.



Schon ist der Hirte heimgekehrt
auf dem Rücken des Ochsen.
Es gibt keinen Ochsen mehr.
Allein sitzt der Hirte,
müßig und still.
Ruhig schlummert er noch,
da doch die rot brennende Sonne
schon hoch am Himmel steht.
Nutzlose Peitsche und Zügel,
weggeworfen unter das stroherne Dach.


VIII. Die vollkommene Vergessenheit von Ochse und Hirte

Aller Verblendung ist er ledig, und auch alle Vorstellungen von Heiligkeit sind verschwunden. Nicht länger mehr braucht er 'In-Buddha' zu verweilen, und schnell geht er durch 'Nicht-Buddha' hindurch weiter. Auch die tausend Augen können an ihm, der an keinem von beiden mehr haftet, nichts bemerken. Wollten Hunderte von Vögeln ihm nun Blumen streuen, er würde sich seiner selbst schämen.



Peitsche und Zügel,
Ochse und Hirt
sind spurlos zu Nichts geworden.
In den weiten und blauen Himmel
reicht niemals ein Wort,
ihn zu ermessen.
Wie könnte der Schnee
auf der rötlichen Flamme
des brennenden Herdes verweilen?
Erst wenn ein Mensch
in diesen Ort gelangt ist,
kann er den alten Meistern entsprechen.


IX. Zurückgekehrt in den Grund und Ursprung

Von Urbeginn an gibt es keinerlei Staub (der die ursprüngliche Reinheit befleckte). Der Hirte beobachtet das Werden und Vergehen des Lebens in der Welt und weilt in gelassener Ruhe. All das (Werden und Vergehen) ist kein Wahn. Warum sollte es notwendig sein, um irgendetwas zu ringen. Grün sind die Gewässer, blau die Berge. In sich ruhend, betrachtet er den Wandel der Dinge.



In den Grund und Ursprung zurückgekehrt
hat der Hirte schon alles vollbracht,
Nichts ist besser,
als jäh auf der Stelle
wie blind zu sein und taub.
In seiner Hütte sitzt er
und sieht keine Dinge da draußen.
Grenzenlos fließt der Fluß,
wie er fließt.
Rot blüht die Blume,
wie sie blüht.


X. Das Hereinkommen auf den Markt mit offenen Händen

Die Tür seiner Hütte ist verschlossen, und selbst der Weiseste kann ihn nicht ausfindig machen. Die Gefilde seines Innern sind tief verborgen. Er geht seinen Weg und folgt nicht den Schritten früherer Weiser. Er kommt mit der Kürbisflasche auf den Markt und kehrt mit seinem Stab in die Hütte zurück. Schankwirte und Fischhändler führt er auf den Weg, ein Buddha zu werden.



Mit entblößter Brust und nackten Füßen
kommt er herein auf den Markt.
Das Gesicht mit Erde beschmiert,
den Kopf mit Asche
über und über bestreut.
Seine Wangen überströmt
von mächtigem Lachen.
Ohne Geheimnis und Wunder
zu mühen,
läßt er jäh die dürren Bäume
erblühen.